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Hexenstunde von Anne Rice

Anne Rice – Hexenstunde von 1990
Taschenbuchausgabe von Goldmann 1995
Umfang: 1087 Seiten.

Diese Rezension enthält SPOILER und ist so lang, wie es ein 1087 seitenlanges Buch verdient.

Where to start? Kleiner inhaltlicher Abriss:

Wir lernen durch die Augen eines Arztes die katatonische Deindre Mayfair kennen, die in einem wunderschönen, heruntergekommenen Anwesen in New Orleans unter der Betreuung ihrer Tante dahin vegetiert. In ihrer Gegenwart wird gelegentlich ein schöner junger Mann gesichtet, doch dieser scheint irgendwie nicht menschlich zu sein.
Man erfährt, dass sie ein Kind hatte, das sie nach der Geburt abgeben musste. Später, als der Tod Deindres kurz bevorsteht, lernen wie dieses Kind, jetzt eine erwachsene Frau namens Rowan Mayfair kennen. Ebenso wird uns ein Bauunternehmer namens Michael vorgestellt, der nach einer Todeserfahrung auf dem Meer von Visionen geplagt wird und keine Gegenstände mehr berühren kann, ohne das tausende Details fremder Leben seinen Geist fluten. Er sucht seine Retterin, die ihn aus dem Meer gefischt hat.
Diese ist Rowan und die beiden verlieben sich ineinander. Als Deindre schließlich stirbt, erscheint auch Rowan in derselben Nacht der geheimnisvolle Mann, doch er verschwindet schnell wieder und sie hält ihn zunächst für eine Illusion.
Entgegen eines Versprechens, dass Rowan ihrer Adoptivmutter gegeben hatte, kehrt sie zusammen mit Michael nach New Orleans zurück, um zumindest einmal ihre verstorbene Mutter zu sehen. Während sich Rowan die riesige Mayfairfamilie offenbart, wird Michael von einer Geheimorganisation kontaktiert, die ihm eine gigantische Akte über diese Familie übergibt.
Hier schickt uns das Buch in die Vergangenheit und erzählt von dem Jahr 1689 an, die Chronik von zwölf Hexen, die alle „den Mann“ sehen konnten und durch ihn eine reiche, mächtige Hexendynastie geworden sind.
Als Rowan das Erbe dieser Dynastie übernimmt, wird deutlich, dass der ominöse Mann vor Jahrhunderten mit der ersten Hexe einen Pakt geschlossen hat. Und Rowan soll diesen Pakt nun einlösen.

Das Positive:

Wie man schon an der nicht gerade kurzen Zusammenfassung erkennen kann, ist die Handlung sehr vielschichtig aufgebaut. Diese Komplexität und auch die Art, wie sich die Familiensaga entwickelt, hat einen höchst spannenden Kern, der mich soweit gefesselt hat, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es ausgeht. Das ist per se ein absoluter Pluspunkt. Auch das Gesamtkonzept der Hexendynastie ist klug durchdacht, in sich logisch bis zum Schluss. Man könnte sagen, das Gerüst ist absolut tragfähig.

Damit war es das dann auch schon mit dem Positiven. Was Anne Rice aus diesem Material gemacht hat, war leider etwas völlig anderes, als ich erwartet hatte.

Ausufernde Beschreibungen:

Pauschal gesagt ist das Buch mindestens um das Doppelte zu lang!
Zunächst sind da die wirklich einnehmenden Beschreibungen des verfallenen Hauses und anderer Örtlichkeiten, die wirklich eine tolle Atmosphäre erschaffen und die Liebe der Autorin zu New Orleans spiegeln. Die ersten hundert Seiten wird man dadurch durchaus eingefangen. Die darauffolgenden Ausschmückungen werden dann aber mühsam bis anstrengend. Gerade im Anfang (also den ersten dreihundert Seiten, was bei anderen ein einzelnes Buch ist) werden Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven wiederholt beschrieben, wodurch man eigentlich schon beim zweiten Mal weiß, was passiert. Nur, weil es ein anderer sieht, möchte man es aber nicht wieder bis ins Detail schrieben haben. Bei der dritten Perspektive gingen mir die Nerven dafür aus, dasselbe Ereignis nochmals detailliert zu lesen, und ich begann seitenweise zu springen – etwas, was ich wirklich nur sehr, sehr selten tue.
Diese ausufernde Detailversessenheit – eine exzessive Form des Show, das wirklich hier und da ein Tell vertragen hätte – betrifft ebenso die Biografien der einzelnen Figuren, die so genau beschrieben sind, dass man als Leser irgendwann an den Punkt kommt, sich zu fragen: muss ich das alles wirklich wissen? Ich bekam teilweise den Eindruck, alles, was Anne Rice je als Hintergrund über ihre Figuren erdacht hatte, musste eins zu eins ins Buch. Es war aber nicht gerade für die Geschichte zuträglich. Auch hier habe ich am Ende manches Charakters seitenweise geblättert.

Die Rückblende

Die Rückblende in der Mittes des Buches beinhaltet eine genaue Chronik der Mayfair Hexen. Es beginnt im Jahr 1689 und geht bis in die Neuzeit. Auch hier begann ich schnell querzulesen, da ich ahnte, was später passieren würde. Und es traf genau so ein: Zu einem späteren Zeitpunkt im Buch erzählt Michael seiner Geliebten Rowan in einer handlichen Zusammenfassung die Geschichte ihrer Vorfahrinnen und alles Wichtige, was den ominösen Mann betrifft.
Die Chronik wurde aus der Sicht der Mitglieder der Geheimorganisation Talamasca geschildert und war sprachlich nicht sehr gelungen. Bereits die erste Geschichte strotzt vor Klischees über Hexenfolgung des Mittelalters und bedient gleich das Gedankengut, dass eine Hexe Werkzeug des Teufels ist. Die gesamte Macht und die Schicksale der Mayfair Frauen werden an diesen teuflischen oder verteufelten Geist gebunden, der Lasher heißt. Er nimmt Einfluss auf sie durch die Fähigkeit, die Frauen sexuell gefügig zu machen. Über die weiblichen Mayfairs kommen in allen Jahrhunderten bis heute noch inzestuöse und gewaltsame Übergriffe männlicher Mayfairs hinzu, die die Hexenmacht stärken sollten. Die Sexualität der Frauen wird von allen Seiten fremdbestimmt.
Was mich direkt zum nächsten Kritikpunkt führt …

Das präsentierte Frauenbild:

… ist eine Katastrophe. Zunächst einmal sind alle entsetzlich schön, schlank und sexy. Das wird bis zur Unerträglichkeit erwähnt und soll natürlich die teuflischen Hexenzuchterfolge widerspiegeln. Unter dem Einfluss des Geistes, werden die Frauen geschwängert und zwar mitunter vom eigenen Vater und Großvater, auf das das nächste Mädchen stärker werde. Sie wird zudem Erbin eines rapide wachsenden Vermögens.
Das heißt im Klartext: Die Frauen sind gekauftes Zuchtmaterial und haben eigentlich KEINE Macht – ihr teuflischer Geist Lasher hat die Macht und übt sie über sie aus – ein wohlbemerkt männlicher Geist, der ungeheuer attraktiv ist. (Letzteres bitte zynisch verstehen).
Ihr Hexenkräfte sind wohl ursprünglich in ihnen genetisch angelegt, aber ab dem Moment, wo Lasher Einfluss auf seine erste Hexe gewinnt, geht es nur noch darum ihre Kräfte zu seinem Wohl zu entwickeln oder besser gesagt zu züchten. Die Frauen dienen also bloß noch dem Mann, aber nicht sich selbst.
Zudem erleiden sie auch einiges innerhalb der wie ein Geschwür wachsenden Familie, sowohl Missbrauch, Vergewaltigung und Tötung durch männlicher Mitglieder, als auch durch Einweisung und medikamentöser Sedierung, wie bei Deindre durch die Hand ihrer Tante, also weibliche Anverwandte.
Es ist insgesamt eine extrem destruktive Darstellung von Hexen, Familie und Sexualität. Aber hey, alle sind dafür ungeheuer schön, unermesslich reich und vermeintlich „stark“ sind – damit sie am Ende ….

Das Ende

Ja, das Ende. ACHTUNG ICH VERRATE ES (teilweise); ALSO FETTER SPOILER!
Ich hatte mir nach alle dem Leid und der Teufelei so gewünscht, dass die Protagonistin Rowan, die letzte Hexe, sich von jenem teuflischen Mann und seinem Einfluss befreit, der alle ihre weiblichen Vorfahren eingenommen hatte. Aber leider war das Gegenteil der Fall. Sie gibt diesem Wesen genau das, was es wollte, und verschwindet dann mit ihm. Dabei verlässt sie Michael, die Liebe ihres Lebens, ohne die sich doch eigentlich nicht existieren wollte, wie ihr seitenweise in den Mund geschrieben wurde, Wozu Michael seine übersinnlichen Fähigkeiten wirklich erhalten hat, klärt im übrigen das Buch nicht auf,
Auch wenn es nochFortsetzungen des Mayfairstoffes gibt und vielleicht die Chance besteht, dass Rowan sich dieses Dämons Lasher entledigt, so war das Ende für mich doch eine riesen Enttäuschung. Und es hat mir das letzte bisschen Lust geraubt, den Folgebänden noch eine Chance zu geben.
Band 2 und 3, wobei der dritte wohl eine eigenständige Geschichte enthält, habe ich aus einem Büchertauschregal gefischt, Band 1 „Hexenstunde“ hatte ich von anno dazumal noch im Schank.

Nun, Fazit:

Nicht nur kehren die beiden Fundbücher dorthin zurück, wo ich sie her habe. Sie bekommen Zuwachs. Auch Band eins gebe ich die Freiheit. Und für mich ist klar: ich behalte wunderbare Erinnerungen an die Vampirsaga, die ich als Jugendliche gelesen habe, wende mich aber enttäuscht von der Hexensaga ab.
Frauen, die der Hexerei bezichtigt wurden, besaßen meist ein Wissen, dass andere ihnen neideten. Sie wurden bösartig verleumdet und waren gewiss niemals mit dem Teufel im Bunde. Sie waren Opfer von so vielen Ungerechtigkeiten, sodass ich kein Buch lesen will, in dem in unserer heutigen Zeit solche Darstellungen weiter gesponnen werden.

Published inAllgemeinFantasyLesenRezensionRoman